Im Hof des Häuschens Fürther Straße 17: am Brunnen ich im mittleren Schlüsselkind-Alter; im Vordergrund mein Nachbar-Spielkamerad Stefan Müller
Im Hof des Häuschens Fürther Straße 17: am Brunnen ich im mittleren Schlüsselkind-Alter; im Vordergrund mein Nachbar-Spielkamerad Stefan Müller

Das Schlüsselkind

Nach meinem Rauswurf bei Urgroßmutter wurde ich im Alter von etwa acht Jahren notgedrungen zum Schlüsselkind. Urgroßmutters seltsames Verhalten hat wohl auch meine Eltern sehr getroffen - und sie zum Entschluss gebracht, dass es besser sei, mich nicht wieder bei der Alten einzuführen und weiter unter ihrer launischen Obhut zu lassen...

Also bekam ich einen Haustürschlüssel. Nach der Schule wärmte ich das von meiner Mutter bereit gestellte Essen auf und ließ es mir schmecken. Dann kehrte ich die Wohnung, räumte auf und stellte meiner Mutter öfter mal Blumen auf den Tisch, die ich aus dem Garten vor dem Haus oder auf den Regnitzwiesen gepflückte hatte. Die Hausaufgaben machte ich so gut ich es alleine konnte. Abends kontrollierte meine Mutter dann nach. Mit dem Rechnen hatte ich so meine Schwierigkeiten. Da musste ich häufig noch nacharbeiten und mir helfen lassen.

In der dritten und vierten Schulklasse unterrichtete uns wieder eine Lehrerin: Frau Blum. Eine große, hagere Frau mittleren Alters, die ihre Haare stets hoch gesteckt trug. Frau Blum war einfühlsam, aber auch konsequent. Sie stammte aus dem baltischen Riga und sprach mit kehlig-hartem ostpreussichem Akzent. Wir Kinder achteten sie nicht nur als Respektsperson, sondern fanden sie sogar liebenswürdig. Und das lag unter anderem daran, dass sie immer mal wieder aus interessanten Büchern vorlas. So z.B. aus Stevensons "Schatzinsel". Bei mir hat sie dadurch einen ganz besonderen Leseeifer geweckt. So habe ich mir aus der Leihbücherei, die im städtischen Bücherbus wöchentlich ins Dorf kam, auch immer wieder neuen Lesestoff besorgt.

Einen großen Teil meiner ersten eigenen Bücher bekam ich von meinem Opa väterlicherseits geschenkt. An einige kann ich mich noch erinnern: Erich Kästners "Emil und die Detektive"; Mark Twains "Tom Sawyer und Huckleberry Finn" (beide mit wunderbaren Illustrationen des legendären Zeichners Walter Trier); "Robinson Crusoe"; "Die Schatzinsel"; "Lederstrumpf" von James Fenimore Cooper; "Die Regulatoren von Arkansas"; "Das Erbe der Inkas"; "Deutsche Heldensagen"... Abenteuer-, Reise- und Geschichtsliteratur waren meine Lieblinge.

 

Die Nachbarschaft

Im großen Barockhaus mit dem Sandstein-Volutengiebel südlich neben unserem Häuschen gab es im Hochparterre zunächst die Gastwirtschaft "Schwarzer Adler" mit Bierschänke. Die Schänke war einfach eine Klappe in einer Tür ein Stück entfernt vom Eingang zum Gastraum. Außen an der Wand befand sich ein Klingelknopf. Wenn man läutete, wurde die Klappe geöffnet, man reichte dem Wirt den mitgebrachten Bierkrug und er füllte ihn mit frisch gezapftem Fassbier. Oder man bestellte Flaschenbier (mit dem damals üblichen Bügelverschluss) zum Mitnehmen durch die Klappe. Damals war es üblich, dass die Kinder da hingeschickt wurden, wenn der Vater zum Abendessen noch Bier brauchte oder wenn Besucher gekommen waren. Ich holte nicht nur Bier, sondern auch Milch - erst an der Sammelstelle am Ende unserer Gasse, später aus einem speziellen Geschäft für Milch und Käseprodukte am südlichen Ortsende.

Wenn wir draußen auf der Gasse zwischen unserem Haus und dem Wirtshaus-Gebäude spielten, beobachteten wir gern auch die Bierlieferungen. Ein knatternder, vibrierender Diesel-Lkw mit Planen-Pritsche fuhr vor. Zwei Bierkutscher in dicken Lederschürzen stiegen aus, hoben mit Stangen ein Seitenteil aufs Planendach hinauf, knallten die Bordwand herunter und zerrten dann Holzfässer und Bierkisten hinab auf eine Sackkarre, die dann wiederum eine Treppe hinauf ins Haus gehievt wurden. Zum Schluss stieg einer auf die Ladefläche des Lkw und schob durch eine eiserne Klappe in der Hauswand quaderförmige, etwa einen Meter lange Eisstangen. Dahinter lag der Kühlraum - und im Sommer sorgte man eben mit diesen Eisstangen dafür, dass das Bier einige Zeit stabil und genießbar blieb. Das Eis holten die Brauer im Winter von zugefrorenen Seen und hielten es weiter gefroren. Für kleine Dorfwirtschaften waren elektrische Kühlanlagen damals noch undenkbar.

Als ich Schlüsselkind wurde, war Fritz Gechters Gastwirtschaft aufgelöst und die Drogerie von Frau Bormann in die Räume eingezogen. An die kann ich mich gut erinnern, weil dort in einem großen Glasgefäß mit rundem Drehdeckel die würfelartig-dicken, einzigartig schmeckenden Storck-Karamelbonbons angeboten wurden. Für zehn oder zwanzig Pfennige bekam man schon ein Hand voll dieser Köstlichkeiten.

Ganz oben im Haus unterm Dach wohnten auch hier Müllers. Eine Mutter ohne Mann mit zwei Buben: der ältere hieß Hansi und der jüngere Stefan. Ihr Großvater lebte mit in der Wohnung und arbeitete auch dort: als Schuster. Deshalb roch es bei Müllers immer nach Klebstoff und Leder. Der groß gewachsene Alte in schmuddelig-blauer Arbeitsschürze empfing mich eines Tages mit einer kräftigen Backpfeife, als ich in die Wohnung kam. Mein Pech, denn ich hatte ganz vergessen, dass mein Vater am Tag vorher dem etwa 13-jährigen Hansi eine Mauschelle gegeben hatte, als der mir trotz mehrfacher Ermahnung meines Vaters immer wieder mein Dreirad wegnahm und schließlich noch frech reagierte. Opa Müller war also für ausgleichende Gerechtigkeit und ohnehin einer vom alten Erzieher-Schlag: hatten die Enkel was angestellt (vor allem Hansi) dann zog er blitzschnell seinen Gürtel aus der Hose - und haute drauflos...

In Stefan Müller fand ich jedenfalls einen netten Spielkameraden. Sein Bruder Hansi war meistens irgendwo unterwegs. Später stellte sich heraus, dass er engeren Kontakt mit amerikanischen Soldaten hatte und wohl auch in der Garnison in Erlangen arbeitete. Eines Tages tauchte er auf und zeigte uns einen Colt-Revolver, den ich als sehr schwer und gefährlich empfand. Auf diese Weise schien sich Hans Müllers Schicksal bereits abzuzeichnen, denn wiederum einige Jahre später hieß es, er sei im Vietnamkrieg gefallen...

Im ersten Stock des Nachbarhauses lebte circa ein Jahr lang so etwas wie meine heimliche Liebe: Rose Kujat, die Tochter einer Deutschen, die mit einem amerikanischen Soldaten verheiratet war. Die blondgelockte Rose war klein, quirlig und kumpelhaft. Sie sprach Deutsch mit einem leichten englischen Akzent und spielte mit uns Jungs Fußball. Jeden Tag holte sie einer der typischen amerikanischen Schulbusse ab und brachte sie wieder nach Hause. Das bewunderte ich sehr. Ich bekam sogar eine echte amerikanische Jeans: Hosen, die es damals bei uns noch gar nicht gab. Roses Mutter hatte sie in der so genannten Commissary der Amerikaner gekauft. Allerdings handelte es sich bei meiner Jeans um die Cowboy-Variante: oben ganz eng und unten mit "Schlag". Die Beinenden waren weit ausgestellt, so wie man es von unseren Seemanns- oder Zimmermannshosen kannte. Statt Bewunderung gab's nur Gelächter in der Schule, als ich damit ankam. Von da an mochte ich sie nicht mehr so gerne anziehen... obwohl ich doch eigentlich der Vorträger eines späteren Modetrends gewesen war.

Schräg gegenüber unserem Häuschen Fürther Straße 17 auf der anderen Straßenseite stand ein großes Fachwerkhaus mit Toreinfahrt und modernem Fabrikbau. Früher gehörte das Anwesen zum Kloster Frauenaurach und man braute dort Bier. In meiner Kindheit war der Anbau der Kunststoff-Spritzgußfabrik von Karl Volland dazu gekommen. Aus dem Gebäude drangen regelmäßig zischende Druckluftgeräusche und ein stechend-süßlicher Geruch wehte heraus. Rechts daneben betrieb Rudolf Drechsler eine Tankstelle, eine Zweirad-Werkstatt und einen Fahrrad-Verkauf. Zur Familie gehörten zwei Kinder: Sohn Karl, der ein Jahr jünger war als ich, und die noch jüngere Tochter Gerdi, die immer einen kecken Pagen-Haarschnitt trug. Damals besaßen erst wenige Menschen Autos, um so mehr aber Mopeds und Motorräder. Viele Auto- und Zweiradmotoren waren Zweitakter, die ein Kraftstoffgemisch aus Benzin- und Öl benötigten. Mich faszinierte der immer gleiche Ablauf beim Betanken von Zweirädern, wenn Vater Drechsler oder ein Monteur oder auch mal der Sohn Karl in das hohe Schauglas der fahrbaren schlanken Zapfsäule im Handbetrieb Benzin hinaufpumpten, dann die notwendige Ölmenge mit einer kleinen Blechkanne dazukippten, um schließlich per Schlauch und Zapfhahn alles in den geöffneten Tank rauschen zu lassen. Im Erdgeschoss des anschließenden Wohnhauses hatte Drechsler einen Fahrradladen mit Schaufenster eingerichtet, in dem man immer die neuesten farbig-funkelnden Räder der Marke Hercules bewundern konnte. Als rühriger Unternehmer besaß Rudolf noch ein Taxi, mit dem er vor allem am Wochenende im Einsatz war. So nebenher züchtete Vater Drechsler auch noch Tauben. Bei der Familie kamen an den Wochenenden öfter mal gebratene Täubchen auf den Tisch. Statt die Tiere dafür einzufangen und dann zu töten, holte sie der Brucker Schützenbruder mit treffsicheren Schüssen direkt vom Taubenschlag herunter. Im Hof des Drechsler-Anwesens befand sich die Werkstatt. Dahinter ging es einen leichten Hang hinab durch den Garten und am Hühnerstall vorbei zur Regnitz. Dort unten am Ufer lag ein Kanu-Boot, von dem noch zu berichten sein wird...

Die vorbeiführende Fürther Straße war mit Granit-Kopfsteinen gepflastert. Schon Personenautos dröhnten und rumpelten. Noch viel lauter aber waren Lastkraftwagen, deren leere Anhänger noch dazu fürchterliche Scheppergeräusche verbreiteten. Weil die Straße zur B 2 und damit zur Hauptverbindungsstrecke von Bamberg nach Fürth gehörte, gab es ständigen Verkehr. Eines Tages wurde ich Unfall-Zeuge, als ein Kind in einen gerade vorbeifahrenden schwarzen Mercedes lief. Das Mädchen prallte ab und fiel nach hinten um - es blutetet aus der Nase. Der Fahrer hielt ein Stück weiter entfernt an, kam hergelaufen und beugte sich zu dem sich wieder aufrappelnden Kind: "Na, ist ja weiter nichts passiert!" - und schon fuhr das Auto wieder davon. Dieser Unfall geschah aus Unachtsamkeit. Das Mädchen wollte zu seiner Freundin auf der anderen Straßenseite und hatte das Auto einfach übersehen. Dass es auf der Fürther Straße in Höhe der Tankstelle und unserem Häuschen zu keinen weiteren, noch schlimmeren Vorkommnissen kam, grenzt fast schon an ein Wunder. Hin und wieder machten wir nämlich einen regelrechten Sport daraus, vor herankommenden Autos noch möglichst schnell über die Straße zu rennen...

Noch ein Stückchen weiter die Straße hinunter nach Norden in der Senke und an der Straßenkurve sehr nahe am Fluß stand das kleine Haus mit dem Friseurladen von Siegfried Grasmück. Seine Tochter Christine war in meiner Schulklasse. Christine zeigte sich immer brav und fast schüchtern. Ihr blondes Haar war kurz und jungenhaften geschnitten. Ich mochte sie sehr - und irgendwie schien es zwischen uns beiden eine Art von natürlicher unausgesprochener Zuneigung zu geben. Das erfuhr ich eines Tages hautnah, als ich sie nach einer meiner häufigeren Erkrankungen zum ersten Mal wieder sah. Da brachte sie mir einen kleinen, extra für mich gepflückten Blumenstrauß und gab mir einen ganz zart gehauchten Kuss auf den Mund.

Jedenfalls war ich davon ebenso überrascht wie aufs angenehmste berührt. Die Romantik dieser Geste hat mich so gefangen genommen, dass ich nie auf die Idee gekommen wäre, nun auch sie zu küssen...

 

Möchtegern-Schwimmer - beinahe Ertrunkener - Halbtoter mit übersinnlicher Wahrnehmung

Von frühester Kindheit an nahmen mich meine Eltern im Sommer mit zum Baden. Meistens begleiteten uns die Schwester meiner Mutter, Ottilie, deren Mann Erwin und ihr kleiner Sohn Jürgen, der ein Jahr jünger war als ich. Diese Familien-Badeausflüge gingen immer zu Naturbädern an Seen oder Weihern. Man fuhr mit den Fahrrädern dorthin und nahm alles Notwendige für einen Tag im Freien mit. Als kleineres Kind saß ich in einem Korb-Kindersitz vorne an der Fahrrad-Lenkstange meines Vaters; später dann hinten auf dem Gepäckträger. Dabei mahnten die Eltern, dass die Beine angewinkelt und die Füße fest auf den Fußrasten bleiben sollten, die an den Verstrebungen befestigt waren. Denn ließ man die Beine baumeln, bestand die Gefahr, dass die Füße in die Fahrradspeichen gerieten. Das konnte ein gebrochenes Kinder-Fußgelenk bedeuten, in jedem Fall aber einen plötzlichen Überschlag oder Sturz der Radfahrer...

Draußen angekommen, ging es bald schon ins Wasser, wo meine Eltern immer wieder geduldig versuchten, mir das Schwimmen beizubringen. Die Methode bestand darin, dass ich mich auf eine Handfläche meines Vaters oder meiner Mutter legen, das Wasser und den Auftrieb spüren und dazu Schwimmbewegungen mit Armen und Beinen machen sollte. Nach einiger Zeit wurde dann die Hand unter dem Bauch weggezogen und ich konnte nur noch auf den Haltegriff hinten an meinem Badehosengummi hoffen. Noch ein Weilchen später gab es den urplötzlich auch nicht mehr - worauf ich prompt und übel Wasser schluckend unterging. Wegen der ekelhaften Erstickungsangst, die ich unter Wasser empfand, waren mir die Schwimmübungen bald verleidet, so dass ich immer erst lang überredet werden musste, bevor ich überhaupt bereit war, mit ins Wasser zu gehen. Und weil sich dann durch meine Angst-Verkrampfung auch keinerlei Schwimmerfolge einstellten, mochte ich die Sommer-Badeausflüge überhaupt nicht mehr. Immerhin zwangen mich meine Eltern dann nicht, weiter zu üben, so dass ich mit Jürgen unbeschwert im seichten Wasser herumspritzen konnte... So hatte ich bis zum Alter von etwa zehn Jahren immer noch nicht gelernt zu schwimmen, obwohl ich später ohne meine Eltern häufiger mit Freunden ins Schwimmbad nach Erlangen gegangen war. Einige von denen konnten schon schwimmen, andere noch nicht. Wir Nichtschwimmer überspielten unser Manko, indem wir im flacheren Nichtschwimmerbecken mit einem Bein auf dem Boden liefen, das andere Bein nach hinten ausstreckten und mit den Armen die Brust-Schwimmbewegungen ausführten. Dazwischen gab es dann immer mal wieder einen Schwimmversuch, indem das Laufbein hoch gezogen und mit den Armen weiter gerudert wurde. Zwei bis drei Züge lang ging das; dann aber waren beide Beine wieder nach unten gesunken. Ich hatte keine Ahnung davon, wie die Schwimmbewegungen von Armen und Beinen richtig ausgeführt und dass sie auch noch koordiniert werden mussten.

Nun war wieder ein Sommer ins Land gezogen, und unser Lehrer kam auf die Idee, mit der Klasse doch mal ins Röthelheim-Schwimmbad nach Erlangen zu gehen. Dort hieß es, dass die Klasse in Schwimmer und Nichtschwimmer geteilt würde. Für die Schwimmer stünde ein Sportstudent zur Verfügung, während der Lehrer die Nichtschwimmer betreuen wolle. Als wir uns zu einer der beiden Gruppen bekennen sollten, verbot es mir mein Stolz zuzugeben, dass ich noch nicht schwimmen konnte. Gar zu gerne hätte ich mich als eine sportliche Wasserratte gesehen - ein Idealbild wie es mein Freund Helmut Wellhöfer verkörperte. Also stand ich bald in der Gruppe der Schwimmer vor dem Sportstudenten. Der bat uns um eine erste kleine Auflockerungsübung im tiefen Wasser: einer nach dem anderen sollten wir von einem Startpodest des Sportbeckens mit Kopfsprung ins Wasser tauchen, unten dann eine Rolle machen und wieder an den Beckenrand kommen. Die Wassertiefe am Beckenrand betrug viereinhalb Meter. Mit einem ziemlich mulmigen Gefühl im Magen sprang schließlich auch ich. Aber schon meine Rolle unter Wasser geriet völlig außer Kontrolle - sofort kam Panik auf - ich schlug nur noch wie wild mit den Armen um mich und versuchte wieder an die Wasseroberfläche zu kommen. Das gelang allerdings nur allzu kurz - schon war ich wieder in die Tiefe weggesackt und hatte dabei jede Menge Wasser geschluckt. Dieses Auf und Ab mit Wasserschlucken hat sich nach meinem Empfinden noch zwei bis drei mal wiederholt. Dabei habe ich das Geschehen tatsächlich als Kampf um Leben und Tod erlitten - als beinahe übermenschliche Anstrengung gegen das Ertrinken... (aus anderer Warte und in seiner ganzen Dramatik geschildert in der Episode "Der Nahtod und seine Folgen")

Mein Glück, dass ich irgendwann bei einem gurgelnden, verzweifelt nach Luft schnappenden Wieder-Auftauchen mit einer Hand doch den Beckenrand zu fassen bekam und mich dann mit letzter Kraft hinaufstemmen konnte.

Als ich mit zitternden Knien und noch halb atemlos wieder draußen stand, sah mich der Sportstudent mit großen Augen an, schüttelte vorwurfsvoll den Kopf und sagte: "Na, was war denn das?" Damals erschien es mir völlig in Ordnung, dass um meine beschämend verunglückte Schwimmpremiere kein großes Aufheben gemacht wurde. Später habe ich mich allerdings gefragt, wie lange der junge Mann wohl noch bis zu einer Rettungsaktion gewartet hätte... Seltsam war auch, dass meine Klassenkameraden die Dramatik und den Ernst der Lage offenbar überhaupt nicht erkannt hatten. Jedenfalls sprach mich danach niemand darauf an. Und das, obwohl ich bei den weiteren Schwimmübungen der anderen schon aus Schock und Erschöpfung gar nicht mehr mitmachte. So weit ich mich erinnere, hatten wir dann nachmittags schulfrei. An diesem Nachmittag und auch noch am nächsten Tag ging es mir sehr schlecht. Ich fühlte mich benommen und kraftlos, meine Brust schmerzte.

Trotzdem bin ich nicht auf den Gedanken gekommen, meinen Eltern von dem Vorfall zu erzählen.

Am Nachmittag des Folgetags hatten wir Werkunterricht. Wir arbeiteten am Modell eines frühen Limes-Wachturms aus Holz. Also hieß es, nach der Mittagspause zuhause noch ein mal zur Schule gehen. Ich kam als erster dort an, lehnte mich unten im Foyer an eine Wand und wartete auf die anderen. Mein Blick war ohne große Gedanken auf eine Stelle an der gegenüberliegend Wand gerichtet.

Dann setzte etwas ein, was ich schon vorher hin und wieder erlebt hatte, wenn ich alleine irgendwo warten musste: eine Art Selbsthypnose, ein völliges Abschalten und Weggetretensein. Aber nicht nur das: Urplötzlich sah ich mich selbst aus der Vogelperspektive! Als ob ich oben auf der Galerie des Schultreppenhauses schwebte und auf den Klaus herabschaute, der da unten ganz allein an der Wand lehnt. Dabei war ich von einem unglaublichen Staunen erfüllt. Aber das hielt leider nicht sehr lange an...

Eine blitzartige Wucht holte mich zurück auf den Boden; ließ mich wieder meinen Körper spüren - und gleichzeitig bemerken, dass mein Gehirn wie ausgelöscht war. Ich konnte nicht mehr denken. Ich kannte meinen Namen nicht mehr. Ich wusste nicht mehr, wer ich war!

Dieses Empfinden versetzte mich in furchtbare Nervosität und Verzweiflung. Ich stand immer noch da wie versteinert - innerlich aber zerriss es mich beinahe vor Panik...

Die Erlösung brachten schließlich die nach und nach eintreffenden Klassenkameraden. In jedem ihrer Gesichter erkannte ich Stück für Stück wieder meine eigene Identität. Überglücklich und unendlich dankbar...