1948 gab die Evangelische Kirche Mischehen nur dann ihren Segen, wenn sich die Ehepartner in einem derartigen Vertrag verpflichteten, ihre Kinder im evangelischen Glauben zu erziehen...
Dogmatisch, intolerant, erpresserisch - aber bestimmt nicht christlich!
Das Zimmer
Ein Kind kommt zur Welt, ein Junge, groß und schwer, unter starken Schmerzen für die Mutter. Für sie kommt das Kind zur Unzeit. Schließlich ist sie selbst erst 18 Jahre alt und noch voller Lebenshunger nach den Entbehrungen des Kriegs und den Hungerjahren danach. Zwar hat sie einen liebenden Mann und das Kind einen Vater. Aber.... ihre Behausung ist primitiv, der Mann noch sehr von seiner Mutter abhängig, eher ein Künstlertyp - weniger ein Praktiker. Wird er stark genug sein, für sie alle zu sorgen?
Der Bub wird am Frühlingsanfang, am ersten Tag des Sternzeichens Widder, in sein Erdenleben geholt. Er sträubt sich wenig. Sein Bewusstsein ist schon geprägt – durch Bauch-Erfahrungen als Quälgeist. Für Zuwendung und Liebe muss er sich jetzt möglichst brav verhalten: wenig schreien, gut essen, lang schlafen, schnell laufen lernen und zügig groß werden...
Wie gut, dass es da noch die anderen Wesen gibt, die ihm gut gesonnen scheinen! Die Engel. Einer wacht über ihn in Gestalt von Großmutters Katze. Sie holt Hilfe, wenn er in seinem Korb im Garten liegend unruhig wird und schreit. Anfangs ist die Mutter noch für ihn da, weil Eltern und Großeltern aus der Nachkriegsnot eine Solidargemeinschaft eingegangen waren, eine bescheidene Wohnung und einen großen Garten miteinander teilten.
Doch dann zerfällt die heile Welt. Großvater und Großmutter ziehen in die nahe Stadt zum neuen Arbeitsplatz des Großvaters. Die Mutter muss nun endlich auch Geld verdienen. Der Vater ist für den Jungen ohnehin ständig abwesend. Er arbeitet in der 20 Kilometer entfernten Großstadt, spurtet in aller Frühe aus dem Haus, um in letzter Minute den Zug noch zu erreichen; kommt abends schlapp zurück, wenn der Junge längst schläft. Da bleibt keine andere Lösung: der Kleine kommt unter der Woche zur Großmutter!
An die Zeit bei Oma als kleines Bübchen kann sich der Erwachsene nur bruchstückhaft erinnern. Immerhin gibt es da einige kleinformatige, zerknitterte Schwarzweißfotos als Gedankenstützen. Sie zeigen ein pummeliges Ich im Strickanzug - ein anderes mit Trachtenstrickjacke und kurzer Hose über gestrickten Beinlingen - ein drittes im Kreis größerer Kinder und Jugendlicher vor einem riesigen Schneemann...
Wenn er sich auf die Expedition in die Vergangenheit einlässt, entdeckt er in lang verschlossenen Gedächtnisspeichern aber doch noch eigene, kräftigere Bilder, Sinneseindrücke und unvergessene Erlebnisse.
Den wunderbaren Geschmack klein geschnittener Schinkenbrotwürfel, mit denen ihn Oma füttert... Die grün gestrichenen Fensterläden mit den ausgestellten Lamellen-Jalousien, die im Sommer Sonnenlichtstreifen auf Möbel und Böden warfen. Die lockig-braune, sanftmütige und streichelzahme Jagdhündin „Bella“ von Fritz Feder, dem behäbigen, dick bebrillten und Zigarre rauchenden Inhaber der Maschinenfabrik, für den Opa als Betriebsleiter arbeitete. Dann war da noch Feders Angst erregende erwachsene Tochter "Leni", die mit sich selbst sprach und aus heiterem Himmel schrie, spuckte und krakelte. Die Erwachsenen sagten, sie sei geisteskrank und bekomme Anfälle...
Im großen Garten, der zum Teil naturbelassen als Blumenwiese gehalten wurde, gab es eine geheimnisvolle, grün gestrichene Holzhütte mit verschlossenen Läden. In der Nähe stand ein rundes, halb in die Erde versenktes Wasserbassin aus Eisen - fast ein technisches Ungetüm mit etlichen Metern Durchmesser, breiten umlaufenden Bändern, Versteifungen und herausragenden halbrunden Nietenköpfen. Ursprünglich dürfte es wohl der Druckkessel einer Dampfmaschine oder dergleichen gewesen sein. Als er etwas größer geworden war, konnte er über den Rand des Bassins gucken - und sich dort an tauchenden Gelbrandkäfern und auf der Oberfläche mit langen Spinnenbeinen staksend dahinschleifenden Wasserläufern satt sehen.
Auf der anderen Seite des großbürgerlichen dreigeschossigen Hauses, dort wo der Fabrikanbau war, hatten die Großeltern einen Hühnerhof. Dort gab es gelbe, herumwuselnde Zwitscherküken, die von Großmutter mit einer Mischung aus klein gehackten Brennesseln und Eigelb gefüttert wurden. Immer wieder streifte er auch an der Schmiedewerkstatt und der Schweißerei vorbei, weil man dort halb fasziniert, halb erschreckt durch offene Tore oder Fenster laute Fauchgeräusche, klingendes, funkensprühendes Schlagen, gleißendes blaues Licht und beißend-brenzligen Geruch erleben konnte. Er bewunderte die Arbeiter, die inmitten von ohrenbetäubendem Lärm und schierer Gefahr fast mühelos die kompliziertesten Dinge zustande brachten. Weiter ging es dann am Schrottplatz und den braunen Eisenplattenstapeln vorbei, zwischen denen hoch aufgeschossener Beifuß wucherte, zu seinem Lieblings-Spielplatz: dem vermoderten Wrack eines Lieferwagens, in dem er ganz alleine das Lenkrad drehte und der große Fahrer war…
Weil er gelegentlich mit Opa in die Werkstatt gehen durfte, bekam er auch mit, was Bohrmilch ist und wie dieses Schmiermittel riecht. War dieser eigentümlich süßliche Hauch morgens in der Wohnung, dann war Opa gekommen. Als Betriebsleiter konnte er sich während der Frühstückspause der Arbeiter in den eigenen vier Wänden entspannen, wo Oma ihm eine ganze Pfanne Rührei auftischte.
Bei Oma und Opa in der Stadt gab es auch die Wesen, die ihm schon vertraut waren, die er aber nun viel deutlicher wahrnahm:
Den Schutzengel im Bild über dem Bett, der einen kleinen Jungen und ein Mädchen über eine schmale Brücke führt. Die Frau mit einem hellen Schein um ihr offenes sichtbares Herz und einem darin steckenden Dolch, die er in einem dicken, rot-golden eingebunden Buch entdeckte. Die Figuren aus Großvaters Schachkiste, die ihn in eine märchenhafte Fantasiewelt zwischen Türmen und Pferden entführten – und schließlich die Prinzessinnen, Elfen und Feen, mit denen er im Bett unter der Bettdecke Abend für Abend lebhafte, verliebte Gespräche führt…
Unangenehmere Empfindungen sind jedoch auch noch präsent: Großmutters Drohung, ihn allein zu lassen, wenn er nicht folgt – so dass er ihr schließlich sogar auf die Toilette nachläuft, um sie bloß nicht zu verlieren… Oder der schlimme Juckreiz, den er ständig irgendwo an der unteren Mitte seines Körpers verspürte, weshalb er sich dort ständig kratzen und reiben muss… Wahrscheinlich hieß es damals: „Der Kerl reibt ständig sein Geschlechtsteil; das ist doch nicht normal; Pfui, Klaus, das tut man nicht!“ Der konsultierte Kinderarzt stellte eine therapiebedürftige Vorhautverengung fest und wies den Jungen ins Krankenhaus ein. Da lag er dann: ausgestoßen, völlig verlassen, unendlich lange, der Willkür höherer Mächte ausgelieferte, die ihn weißbekittelt distanziert und gefühllos behandelten – die Angehörigen nur kurz einmal hinter einer Art Schaufenster wahrnehmend, was sein Alleinsein und seine Traurigkeit in der Reihe der anderen Kinderbetten nur noch mehr verstärkte.
Bald nachdem er entlassen war, sollte er plötzlich in den Kindergarten gehen. Die Großmutter brachte ihn hin. Er heulte und wollte nicht bleiben. Die Großmutter ging, man zerrte ihn hinein. Drinnen heulte er weiter und schrie nach ihr. So scheint es ein paar Tage gegangen zu sein. Dann waren sich offenbar alle einig, dass der Kindergarten noch nicht das Richtige für ihn sei.
Aber Großmutters Nervenkostüm schien nun zerrüttet gewesen zu sein; sie hatte ohnehin schon immer gekränkelt, es hieß, sie leide unter Herzbeschweren und an ihrer „Staublunge“; einer Berufskrankheit aus der Glasschleiferei, in der sie früher einmal gearbeitet hatte… Jedenfalls konnte und wollte sie den Jungen nicht weiter betreuen. Wohin also mit ihm? Großmutter wusste Rat: Frau Kinzel, die Nachbarsfrau aus dem Haus, in dem die Großeltern von 1930 bis zum Kriegsende gewohnt hatten. „Die geht nur stundenweise putzen und kann den Kleinen doch betreuen. Außerdem haben die Kinzels zwei fast schon erwachsene Töchter, die auch auf den Kleinen aufpassen können“. Gesagt, getan: Eh’ sich das Kläuschen versah, landete es in einer völlig fremden, höchst unsympathischen Umgebung. Frau Kinzel entpuppte sich als eine mürrische Matrone in Kittelschürze, Herr Kinzel als ein Bier trinkender, maulfauler Gnom mit Halbglatze, den der Junge aber nur selten zu sehen bekam. Die Töchter waren so 13 und 14 Jahre alt und schienen zunächst ganz nett…
Der Erwachsene weiß nicht mehr, wie lange das Kind im Alter von etwas mehr als drei Jahren bei Kinzels zubringen musste. Die Zeit kam ihm jedenfalls endlos vor. Dabei sind zwei Erinnerungen besonders unangenehm:
Die eine hat damit zu tun, dass ihn seine Mutter immer schon sehr früh am Morgen zur Pflegefamilie brachte, bevor sie zur Arbeit ging. Meist lagen da die Töchter der Familie noch in ihren Betten. Der Einfachheit halber wurde der Junge einfach dazu gelegt, so lange Mutter und Vater Kinzl noch mit ihrem Frühstück beschäftigt waren und dann schließlich die Töchter sich für die Schule fertig machten. Bis dahin aber hatten die Mädels allerlei Schabernack im Kopf, den sie mit dem Kleinen da im Bett treiben konnten. Pech für den kleinen Klaus, dass er den albernen, pubertierenden Dingern so ausgeliefert war. Ein häufig betriebenes Späßchen bestand darin, dass sie, barfuß und im Nachthemd, über sein Gesicht liefen und dabei ihre ekelhaft nach Fußschweiß stinkenden großen Zehen in seinen Mund bohrten, bis er zappelte und würgte…
Bei der anderen Sache handelt es sich um die Wohnküche der Kinzels: für ihn nur „das Zimmer“. Denn das Zimmer hatte öfters eine äußerst nervenaufreibende, ganz besonders schlechte Eigenschaft: Es war rundum verschlossen – er war alleine darin – und Frau Kinzl kam einfach nicht wieder. Einmal kam ihm die Zeit besonders lang vor und die Einsamkeit schien kaum mehr erträglich. Wie ein Tier im Käfig tigerte er Runde um Runde, Stunde um Stunde an den Wänden entlang: An der Küchenecke mit dem Herd und dem Ausguss vorbei, an der verschlossenen Verbindungstür zu den hinteren Räumen der Wohnung vorbei, um die Ecke herum, wo ein Blumenhocker mit Asparagus und anderem Kraut stand, an Tisch, Sofa und Stühlen, einer Anrichte entlang, wobei Angst und Nervosität immer größer und seine Hoffnung auf die Rückkehr Frau Kinzels immer kleiner wurden. Weitere Qualen ergaben sich aus der Tatsache, dass sich sein Darm entleeren wollte, der Weg zum Abort im Treppenhaus aber versperrt war. Als der ständig wiederkehrende Drang sich nicht mehr unterdrücken ließ, musste er alles laufen lassen und fühlte sich dabei wie ein Schwein. Als danach wieder eine Zeitspanne voller Scham, Angst und Nervosität verstrichen war, ließ ihn ein nagendes Hungergefühl seine nasse, stinkende und besudelte Kleidung vergessen. Das grummelnde Baugrimmen nahm beständig zu. Nirgends kam er an Essbares heran – nur auf dem Küchenbüffet lag ein großer Laib Brot. Nach längerem Zaudern siegte der Hunger über die Skrupel: Er packte das Brot, setzte sich aufs Sofa und biss rundherum die Rinde ab, bis er sich satt fühlte. Irgendwann rappelte schließlich doch Frau Kinzels Schlüssel an der Tür – sie machte ein fürchterliches Geschrei und gab ihm eine Ohrfeige wegen des abgeknabberten Brots. Abends als Mutter ihn abgeholt hatte, setzte es daheim noch mal eine ordentliche Tracht Prügel, weil „der große Bub“ in die Hose gemacht hatte…