Vom Pagen zum Knappen - weit weg von daheim

Kurz vor seinem 12. Geburtstag im März schickten die Eltern den Pagen Klaus zur Erholung. Als Dank für seinen Kräfte zehrenden Einsatz als Bauhelfer und bei der Betreuung seiner kleinen Schwester. Mit einer Gruppe von Altersgenossen wurde er in die Alpen gefahren - nach Berchtesgaden. Dort sollten in einem Heim am Hang des unteren Salzbergs Körper und Geist der heranwachsenden Kinder durch ausgewogene Ernährung, Spiele und andere gemeinschaftliche Aktivitäten in freier Natur gestärkt werden. So früh im Jahr war es noch frisch und kalt in Berchtesgaden. Schneegezuckert trohnte das Bergmassiv des Watzmann über Kirche, Kloster und Siedlung. Und auch rund ums Heim am Salzberghang lagen noch Schneefelder, so dass die Kinder von Felsblöcken herab in die nasskalte Pracht sprangen und auf Hosenböden um die Wette den Abhang hinab rutschten.          

Nach etwa einer Woche fühlt Klaus sich ganz schlapp und krank. Alle Knochen in seinem Körper tun ihm weh. Nachts schreckt er auf: Er geht einen Weg entlang, hört hinter sich lauter werdendes Hufgetrappel - und erspäht beim  Umschauen einen Pulk von Reitern, die in dröhnendem Galopp auf ihn zukommen. Kaum hat er Topfhelme und eingelegte Lanzen erkannt, da rennt er auch schon um sein Leben... Aber umsonst. Rund um ihn herum bedrohlicher Hufschlag, Pferdeschnauben, knarrendes Zaumzeug, metallenes Klirren. Ein mehrstimmiges "Brrrrrrrrrrr" bringt die Pferde zum Stehen. Sechs oder sieben voll gerüstete Ritter mit Topfhelmen, in Kettenhemden und bunten Waffenröcken darüber haben ihn eingekreist.

Schon kniet er auf dem Boden, streckt seine Hände nach oben und fleht voller Verzweiflung: "Ich bitt Euch, Ihr Herren: lasst mir mein Leben!" Mit seinem letzten Mut schaut er auf, sieht die auf ihn gerichteten Lanzenspitzen, die tänzelnden, wiehernden, prächtig gezäumten Rösser und erkennt darüber die funkelnden Augenpaare der Reiter, die ihn aus den Sehschlitzen der dunklen Helme mustern. Nun zittert er vor unbändiger Angst. Gleich werden sie ihn zu Tode spießen!!!

Doch - was ist das? Ein Ritter nach dem anderen schwenkt seine Lanze aufrecht nach oben. Dabei fällt kein einziges Wort. Ein letzter Blick hinunter zu dem Knieenden. Rundum nicken Helme sich zu. Die Reiter greifen in die Zügel, wenden ihre Pferde, traben um ihn herum an und reiten wieder zurück in die Richtung, aus der sie gekommen sind. Bald ist der Hufschlag verklungen...

Der Page Klaus lebt zwar - aber jetzt ist er hoffnungslos verzweifelt! Denn nun hat er völlig die Orientierung verloren. In absoluter Dunkelheit aus einem schlafwandlerischen Fieber-Alptraum irgendwo im großen Schlafsaal aufgewacht, tappt er blind durch die Bettenreihen - und kann seine Schlafstatt nicht mehr finden...

Wenn er meint, "seinen Platz" erkannt zu haben und sich in sein Bett legen will, wird er weggeschubst oder er bekommt einen Fußtritt. "Hau ab!" - und "Geh doch in Dein Bett!" tönt es ihm da entgegen. Endlich, nach schier endloser Suche, dämmert es ihm, dass er ja einen der oberen Schlafplätze belegt hat. Mit einem Gefühl unendlicher Dankbarkeit und Erschöpfung findet er dann auch sein Nest, hievt sich mit letzter Kraft hinauf und fällt in einen todesähnlichen Schlaf... 

Milchsuppe, Kohlenkeller, Todesangst und andere Erfahrungen: drei Wochen Kinder-Erholungsheim "Stadlerlehen" in Berchtesgaden

Nach unserem Einzug ins neue Haus kurz vor Weihnachten 1960 hatte ich mich gerade an die Errungenschaften Badezimmer, WC und all den anderen modernen Wohnkomfort gewöhnt, als es Anfang 1961 hieß: "Du darfst zur Kinder-Erholung drei Wochen nach Berchtesgaden!"  Damit nicht zu viel Schulunterricht ausfiel, musste der Erholungsaufenthalt in der Zeit der Osterferien stattfinden, wobei es vorher noch eine Woche schulfrei gab. So kam es, dass ich kurz vor meinem 13. Geburtstag am 21. März weg musste und nicht zu Hause feiern konnte.

Diese Kinder-Verschickungen waren soziale Leistungen der Siemens-Reiniger-Werke in Erlangen, des Arbeitgebers meiner Mutter. Die Firma hatte dafür Verträge mit dem privaten Ferien- und Erholungsheim "Stadlerlehen" in Berchtesgaden geschlossen.

Für einen dreiwöchigen Aufenthalt so früh im Jahr mussten verschiedene Dinge noch besorgt werden. Vor allem ging es darum, genügend warme Bekleidungssachen mitzunehmen. Ich war dabei, als meine Mutter den Koffer packte und die gewünschte Inhaltsliste beilegte. Zusammen überlegten wir, ob man "Waschlappen" schreiben konnte, oder ob es dafür noch einen anderen sprachlich korrekteren Begriff gab? Und prompt fiel meiner Mutter ein: "Wasch-Handschuhe"!

Unsere Gruppe bestand aus annähernd 40 Kindern, Jungs und Mädchen. Mit dem Zug fuhren wir von Erlangen über München nach Berchtesgaden. Das war gleichzeitig meine erste große Reise. Seltsamerweise hatten mir meine Eltern fast gar nichts von Berchtesgaden und der grandiosen Alpenlandschaft rund um das Städtchen erzählt, obwohl sie doch einige Jahre vorher selbst schon dort gewesen waren...

Im Zug saß ich in einem Abteil neben dem zwei Jahre älteren Michael Zink und habe mich während der Fahrt gleich mit ihm angefreundet. Er verteilte großzügig wunderbar riechende und schmeckende Zimt-Kaugummis von Wrigley's in roter Verpackung. So kam ich zum ersten Zimt-Kaugenuss meines Leben - und Michael wurde mir noch sympathischer.

Durch die Erzählungen meiner Mutter wusste ich schon, dass sein Vater Peter Zink "Betriebsratsvorsitzender" von Siemens-Reiniger war. Von Michael erfuhr ich nun, dass er auch "Landtagsabgeordneter" in München sei und dort auf den Bahnhof kommen würde, um uns zu begrüßen. Unter diesen Berufen oder Funktionen Peter Zinks konnte ich mir damals kaum etwas vorstellen. Er war einfach "ein höheres Tier" mit  wichtigen Aufgaben in der Arbeitswelt und in der Politik.

Kurz vor dem Einsteigen in unseren Anschlusszug tauchte dann wirklich ein freundlicher, schlanker älterer Mann in Anzug und Krawatte auf, der Michael väterlich über den Kopf strich, ihm einen schönen Aufenthalt wünschte und dann auch noch mit dem Betreuungspersonal unserer Gruppe sprach. Bei der Abfahrt stand er auf dem Bahnsteig und winkte uns nach.

Damals hatte ich keine Ahnung davon, welche Institution der "Zink'n Peter" in Erlangen war: Betriebsratsvorsitzender bei den Siemens-Reiniger-Werken und Mitglied im Aufsichtsrat dieser Aktiengesellschaft, SPD-Ortsvorsitzender und Fraktionschef im Stadtrat, Oberbürgermeister-Kandidat im Jahr 1959, Landtagsabgeordneter seit 1954.

Die Nationalsozialisten hatten ihn 1933 für etliche Monate im KZ-Dachau inhaftiert, weil er als Redakteur der Zeitung "Erlanger Volksblatt" arbeitete, Mitglied der SPD und des Gewerkschaftsbunds war und die Sozialistische Arbeiterjugend in Erlangen führte. Nach seiner Entlassung wurde er mit Berufsverbot belegt. Ab 1936 begann er eine Berufslaufbahn bei der Nachfolgegesellschaft seiner Lehrfirma Reiniger, Gebbert und Schall: den Siemens-Reiniger-Werken. Dort bildete er sich vom Technischen Zeichner zum Konstrukteur weiter, leitete die Normenabteilung und die Lehrlingsausbildung.

 

Auf unserer Weiterfahrt schaute ich irgendwann aus dem Abteilfenster - und bin dabei richtig erschrocken: "Mannomann, der Zug fährt doch auf eine riesige dunkle Gewitter-Wolkenwand zu!" Doch dann erkannte ich: Diese nie gesehene, völlig ungewohnte, bedrohlich wirkende Erscheinung, die den Horizont verdunkelte - das waren Berge! Eine endlos aneinanderhängende zerklüftete Bergkette - unten dunkel bewaldet, auf den Gipfeln weiß verschneit und teils von Wolken umhüllt: die oberbayerischen Alpen. Bald hatten alle die Szenerie entdeckt, und ein großer Jubel setzte ein. Bis zu unserem Ziel Berchtesgaden in den Alpen konnte es jetzt nicht mehr allzu weit sein.

Dort angekommen, standen wir vor dem Bahnhof in einem ungewohnten, kühlen und sehr eigentümlich nach Wasser, Schnee und Gebirge riechendem  Windhauch. Alles war so neu und völlig anders als daheim - sogar das Klima!

Als unsere Gruppe im Bus die Salzbergstraße hinauf gefahren wurde, sahen wir gleich, dass überall auf den Hängen noch größere Schneefelder lagen. Am meisten beeindruckte mich aber der Blick hinunter auf die romantische Stadtszenerie mit den eng beieinander liegenden Kirchtürmen und dahinter dem massigen Bergstock des Watzmann, dessen sieben Gipfel weiß gepudert aufragten. 

Das Erholungsheim "Stadlerlehen" stand im Ortsteil Untersalzberg am Hang oberhalb des Salzbergwerks. Mit dem Bus ging es eine nicht allzu lange Strecke und einige Kurven den Berg hinauf - dann bogen wir links in eine schmale Stichstraße ab.  Das Heim entpuppte sich als ein lang gestrecktes zweistöckiges Haus mit dem typischen alpenländisch flachem Satteldach aus Blech.

Erst jetzt vor dem Schreiben dieser Episode habe ich mich über den weiteren Verlauf der Bergstraße informiert, auf der wir zum Heim kamen: sie führt weiter zum Obersalzberg, der durch Hitlers Berghof und dessen Teehaus - das Kehlsteinhaus - weltbekannt wurde, und wird schließlich zur Rossfeld-Höhen-Rundstraße, die auch über österreichisches Staatsgebiet im Land Salzburg verläuft. Bezeichnenderweise haben wir in Berchtesgaden von der Nazi-Vergangenheit ein Stück weiter der Berg hinauf kein Wort erfahren - aber auch in Erlangen war die NS-Zeit weder in der Schule noch zu Hause jemals ein Thema. 1961 befand sich das weitläufige Gelände auf dem Obersalzberg schon seit 14 Jahren im Besitz der US-Army und wurde als Erholungszentrum genutzt. Bis 1945 aber war es das schwer bewachte und abgeschirmte Refugium für Adolf Hitler, dessen Freundin Eva Braun sowie die Vasallen Bormann und Speer gewesen. Die von den Alliierten dort vermutete Alpenfestung hatte es allerdings nie gegeben.

 

Im Haus "Stadlerlehen" wurden wir in getrennten Schlafsälen für Buben und Mädchen im Obergeschoss untergebracht. Unsere Koffer kamen in einen extra Raum - und wir erhielten jeden Tag die Kleidungsstücke, die wir brauchten. Nachts schlief eine jüngere Frau als Aufpasserin auf dem Flur neben unserem Schlafsaal. Im Untergeschoß gab es einen großen Raum, in dem wir essen und uns tagsüber aufhalten konnten, wenn schlechtes Wetter war und keine Ausflüge stattfanden. 

Die ersten Frühstücke in diesem Raum habe ich bis heute nicht vergessen: Da bekamen wir warme, von einer Haut überzogene und für meinen Geschmack zum Erbrechen süße Milchsuppe, wobei der Teller unbedingt ausgegessen werden musste. Sobald ich einen Löffel voll schluckte, setzte sofort Würge- und Brechreiz ein. Wie ich später erfahren habe, war die Suppe kräftig mit Vanille gewürzt - schon den Geruch empfand ich als stechend-süß und ekelhaft - aber erst die Geschmackskombination von warmer, fetter Milch und Vanille machte die Suppe für mich ungenießbar. Also hörte ich nach einigen Löffeln und Würgeanfällen auf zu essen.

Aber das kam bei der weiß beschürzten Frühstücks-"Aufpasser-Tante", die hinter uns  patrouillierte gar nicht gut an. "Du isst sofort die Suppe auf!. Stell Dich nicht so an!" "Ich kann aber nicht - mir wird schlecht - ich muss brechen!" "Papperlapapp - Milchsuppe ist gesund für Euch, Du musst sie essen!" "Ich esse sie aber nicht!" "Na, das werden wir ja sehen. Ab mit Dir in den Keller. Da kannst Du Dir überlegen, was Du möchtest!"

Sie packte mich am Arm und schleppte mich zu einer Tür, hinter der es eine Treppe hinunter ging - in den Kohlenkeller. "Hier bleibst Du jetzt erst mal!" Schon flog die Türe wieder zu, wurde versperrt - und das Licht ging aus...

Da saß ich dann unten auf der Kellertreppe - völlig überrumpelt, geschockt und verängstigt und fragte mich: Wieso muss ich so eine Strafe bekommen, nur weil ich die blöde Milchsuppe nicht essen kann? Warum schaltet sie auch noch das Licht aus? Die Erlebnisse als Kind bei Frau Kinzel im versperrten Zimmer kamen mir wieder in den Sinn. Ich hoffte nur, sie würden mich da unten nicht vergessen. Diese Dunkelheit war schrecklich und kaum auszuhalten. Bei meiner Mutter musste ich ja eigentlich auch immer alles aufessen. Aber Milchsuppe hatte es bei uns nie gegeben. Und meine Mutter bestand nie mehr darauf, dass ich ausesse, als sie bemerkt hatte, wie ihre Erbsen- oder Linsensuppe mir nach jedem Schluck immer wieder hochkam...

Als die Dunkelheit immer unerträglicher wurde, war ich schon fast dabei, mich an der Wand entlang die Treppe hinauf zu tasten, um kräftig von innen an die Kellertür zu hauen - als plötzlich das Licht wieder anging und die Tür aufgesperrt wurde. Gott sei Dank! Oben saßen nur noch wenige Kinder beim Frühstück. So weit ich mich erinnere, war die Milchsuppe weggeräumt und noch eine Semmel für mich übrig geblieben. Aber am nächsten Morgen spielte sich leider noch einmal die gleiche Prozedur ab. Tante Soundso war offenbar von der ganz harten Sorte und nicht so schnell zu beeindrucken. Sie musste sich schon noch vergewissern, dass das mit dem Brechreiz wirklich nicht gespielt war! Erst dann wurde mir die Milchsuppe erspart und ich konnte endlich entspannt und mit Genuss frühstücken!

Am Tag nach unserer Ankunft war eigentlich mein Geburtstag. Aber statt eines schmackhaften, gemütlichen Geburtstagsfrühstücks in fröhlicher Feierrunde gab's Ekel, Einsamkeit und Dunkelhaft. Immerhin kam zum ersten Wochenende schon ein kleines Trostpäckchen meiner Eltern mit viel Schokolade. Aber auch das wurde mir nach einem ersten Reinschauen und Herausessen gleich weggenommen und erst am nächsten Wochenende wieder ausgegeben.  

 

Der böse Test gleich zu Beginn war schon so etwas wie ein Omen für den weiteren Aufenthalt im Heim. Denn da wartete noch eine andere Prüfung - nach der ich die ganze restliche Zeit und unsere Unternehmungen in Berchtesgaden wie im Traum erlebte und nur noch wenige Erinnerungen daran habe...

In der ersten Woche erkundeten wir hauptsächlich die Umgebung des Heims: kletterten auf die Felsblöcke am steilen Hang, sprangen von dort in den Schnee, der noch in größeren Feldern lag, und rutschten auf den Hosenböden den Berg hinunter.

An die Abhänge und Steigungen musste man sich erst gewöhnen, weil es doch einige Kraft kostete, immer wieder im Eiltempo noch oben zu laufen. Weiter hangabwärts gab es Wäldchen und Bachläufe, die wir durchstreiften. Hin und wieder sprangen grau gefärbte Rehe in eleganten Sätzen über die Bergwiesen. So weit ich mich entsinne, besuchten wir nach einigen Tagen auch schon das Salzbergwerk. Es lag nur einen Fußmarsch entfernt den Hang hinunter. Gleich neben den Gebäuden rauschte und wogte die Berchtesgadener Ache milchig-türkis in ihrem Geröllbett. Wir mussten schwarze Bergmannskluft über unsere Kleidung anziehen und bekamen Lederstücke, die man sich auf den Hosenboden schnallte. In dieser Ausrüstung sausten wir dann hintereinander über eine Holzrutsche ein Sohle tiefer in den Berg, wurden im Kahn über einen Salzsee gestakt und fuhren schließlich mit der kleinen Elektrobahn wieder aus dem Bergwerk hinaus...

 

In der ersten Woche in Berchtesgaden müssen mir wohl irgendwelche Viren zugeflogen sein, auf die mein Körper eines Nachts mit starkem Fieber reagierte. Dabei hatte ich den bereits geschilderten Traum, in dem mich Ritter mit eingelegten Lanzen verfolgten. Dieser Traum war so realistisch, dass ich von meiner Schlafstatt in der oberen Etage eines Stockbetts gesprungen bin und meinen Verfolgern schlafwandlerisch durch das Nachquartier der Knaben davonlaufen wollte. Als mich die Reiter schon eingekreist hatten, aber wie erwartet nicht mehrfach aufspießten, sondern gnädig verschonten, da löste sich meine schreckliche Todesangst - und ich kam langsam wieder zu mir...

Aber da folgte gleich der nächste Schreck! Ich wusste nicht recht, wo ich mich befand. Ringsum nur Finsternis. Blind tastend suchte ich mein Bett, meinte es gefunden zu haben und mich endlich wieder hinlegen zu können... Doch dann erlebte ich im wahrsten Wortsinn immer wieder die niederschmetternde Erfahrung "ausgestoßen" zu werden - und eine steigende Verzweiflung bei jedem neuen gescheiterten Versuch, meinen Schlafplatz zu finden... Bis mir endlich einfiel, dass ich ja im Oberstock zu Hause war und dort suchen musste. Und wirklich fand ich gleich darauf meinen leeren Platz, kletterte unendlich erleichtert hinauf - und schon ließ mich die Erschöpfung in den Schlaf wegsacken...

Am nächsten Tag wurde ich erst so gegen Mittag wach. Ich hatte wohl noch Fieber und musste mich wieder hinlegen. Dann scheine ich wieder bis zum nächsten Morgen durchgeschlafen zu haben. Ich fühlte mich zwar noch ein wenig wackelig, hatte aber richtig Hunger. Die Aufpasserin entschied, dass ich aufstehen dürfe.

 

Wie schon erwähnt, sind vom Rest des Aufenthalts in Berchtesgaden nur noch bruchstückhafte Erinnerungen geblieben. So weiß ich noch, dass wir nach dem Essen immer eine Zeit Mittagsruhe in unseren Betten halten mussten. Alle von uns - und nicht nur die älteren - fanden das "richtig doof". So entstanden Spiele zum Zeitvertreib, die von Bett zu Bett stattfinden konnten. Eines Tages warfen wir mit unseren Hausschuhen hin und her, als einer meiner Würfe nicht über das Fußteil meines Betts flog, sondern mit voller Wucht dagegen. Das verursachte einen lauten  Knall - worauf prompt die Schlafsaaltür aufgerissen wurde: die Aufpasserin stürzte herein, ging durch die Bettreihen und entdeckte meinen Hausschuh am Bettende, den ich eigentlich gerade verschwinden lassen wollte. Zu Strafe musste ich noch länger im Bett bleiben, während die anderen wieder zum Nachmittagstee "in die Freiheit" entlassen wurden... Eine andere Erinnerung ist die Omnibusfahrt hinauf auf das hochgelegen Skigebiet "Rossfeld" - wie ich heute weiß vorbei an Hitlers einstigem Berghof und dem Kehlsteinhaus, uns damals völlig unbekannt und auch von den Betreuerinnen mit keinem Wort erwähnt. Noch nicht einmal das vom Tourismus voll übernommene Kehlsteinhaus war einen Abstecher wert. Stattdessen stapften wir ganz oben auf dem Rossfeld in einer wirren Horde durch den Schnee - bis unsere Aufpasserinnen von einem Knacker in Ski-Keilhosen, rotem Pullover und Schiebermütze beschimpft wurden: "Ja, passt's do auf - ihr zertrampelt uns doch die ganze Piste!" 

Bei einem Ausgang in die reizvolle Touristenstadt Berchtesgaden rund um den barocken Marktplatz mit Brunnen und Säule sahen wir Ansichtskarten, die die Sage vom "König Watzmann" und dessen Familie erzählten. Danach handelt es sich bei den sieben Gipfeln des Bergmassivs um eine zur Strafe versteinerte Herrscherfamilie, die ihre Untertanen übel behandelte. Vater, Mutter und Kinder veranstalteten willkürlich regelrechte Jagden auf Menschen, die ihnen bei ihren Ausritten begegneten. Als sie eines Tages erst die Frau eines Hirten, dann deren Säugling und zuletzt auch den Mann brutal niedermetzelten, ereilte sie ihr Schicksal. 

 

Am eindrucksvollsten war unser Ausflug zum Königssee. Von Schönau fuhren wir an majestätisch breiten, wettergegerbten Bootshäusern vorbei mit einem leise schnurrenden, eleganten Elektroboot über den See zum Wallfahrtsort St. Bartholomä. Mitten auf dem See stoppte der Kapitän das Boot und blies Kurzmelodien auf einer Trompete, die dann als Echos von der gegenüberliegenden steilen Felswand zurück klangen. Dann ging es weiter hinüber zu der eigentümlichen, märchenhaften Kuppelkirche mit ihren roten Dächern...

Als ich aus der wie in Trance erlebten Alpenwelt wieder zu Hause angekommen war, stellte meine Mutter fest, dass unsere Aufpasserinnen bei der Hygienekontrolle offenbar versagt hatten: bei mir klebte hinter einem Ohr immer noch einer von Michael Zinks Zimtkaugummis, der irgendwann vor dem Essen mal herausgenommen und dort zwischengelagert, dann aber vergessen worden war.