Am Brunnen im Vorgarten, an dem die Hauslerin Beeren und Kräuter wusch...
Am Brunnen im Vorgarten, an dem die Hauslerin Beeren und Kräuter wusch...

Die Hauslerin, der "Bulzer" und ein nachtragender Hund...

Das Nachbarhaus, in dem Hansi und Stefan wohnten, hatte im obersten Stockwerk nach hinten hinaus einen offenen Wäsche-Trockenboden. Hier auf der Ostseite war der Giebel ohne Außenmauer - es gab nur eine halbhohe Verbretterung aus Holz. Auf dem Dachboden konnte man sich gut hinter den hängenden Wäschestücken verstecken. Außerdem beobachteten wir über die Balustrade hinweg, was sich unten im dahinter liegenden Bauernhof abspielte. Die hatten nämlich einen Zuchtbullen, zu dem die anderen Bauern regelmäßig Kühe zum Besamen trieben. Im Spätsommer kam die Getreide-Dreschmaschine, die vom Motor eines daneben stehenden Traktors per Transmissionsriemen angetrieben wurde. Dass mit dem Dreschen viel Krach und Straub verbunden waren störte uns weniger. Faszinierend fanden wir die Arbeitsabläufe rund um den rüttelnden Maschinenkasten und die vielen Helfer, die dazwischen immer mal ausgiebig Brotzeitpause machten. Wenn wir Kinder aus der Nachbarschaft unten im Hofraum neugierig zuschauten, bekamen wir meistens auch was ab. Zum Beispiel ein Stück Brot mit Limburger Käse und eine Essiggurke.

 

Unser Lieblings-Spielplatz war die Gasse hinter unserem Häuschen. Offiziell hieß sie Webergasse. Ihre Bodenfestigung bestand überwiegend aus eingetieften schwarzen Basalt-Schottersteinen. Löcher, Pfützen, Matsch sowie herausstehende und lose Steinbrocken gehörten dazu. So entstanden oft böse Verletzungen, wenn man dort hinfiel. Einmal steckte bei mir ein Steinbrocken regelrecht im Knie. Zu unserem Glück gab es in der parallel zur Hauptstraße verlaufenden Gasse nur sehr wenig Verkehr. Gelegentlich wurde eine wild schnaubende Kuh durchgetrieben, die vom Romer-Stier im Bauerhof um die Ecke herum bestiegen werden sollte. Oder ein Bauer lenkte seinen von Ochsen gezogenen Heuwagen durch. Hier konnten wir erst mit Dreirädern, später dann mit Tretrollern und Fahrrädern auf und ab sausen. Gespielt wurden Fußball, Federball und Völkerball. An einer Stelle verbreiterte sich die Gasse, wo eine Scheune nach hinten versetzt stand. Auf das große Holztor konnte man mit aller Wucht die Bälle donnern lassen. Der Mut desjenigen, der gerade zum Torwart-Training davor stand, wurde ordentlich gefordert. Durch Fehl- und Hochschüsse entstand häufig Schaden in angrenzenden Gärten und gelegentlich auch bei Fensterscheiben. Wenn's geklirrt hatte, suchten wir natürlich sofort das Weite und ließen uns danach eine Zeit lang nicht mehr auf der Gasse blicken.

 

Ein anderes Spiel in der Kinderschar, eigentlich aber eine böse Unsitte, war das "Trietzen" (fränkisch "Tretzen") vermeintlich hilfloser einzelner Erwachsener. Unser liebstes Opfer wohnte bei uns im Haus unterm Dach in den Bretterstuben, die vorher Opa und Oma Müller belegt hatten. Es handelte sich um eine alte, rappeldürre Frau mit langer Nase, wettergegerbtem furchigem Gesicht und kleinen runden Brillengläsern, die sich offenbar nur von Löwenzahn, Kräutern und Beeren ernährte. Ihr Familienname war Hausler. Wir nannten sie Hauslerin, Hexe oder Waldschrat. Die Spitznamen hatte sie bekommen, weil man ihr urplötzlich im Wald begegnen konnte, wo sie durch ihre Erscheinung ordentlich Schrecken verbreitete: das hexenartige, stets streng bis böse blickende Gesicht unter einem Kopftuch halb verborgen, die ganze Gestalt in einen wadenlangen schwarzgrauen Gummi-Regemantel gehüllt und unvermittelt aus einem Heckengestrüpp oder Unterholz herauslugend. Fast jeden Tag brach sie mit ihrem uralten Fahrrad zu einer Sammeltour in den Wald auf. Als Sammelbehälter hatte sie auf dem Rad Kisten, Dosen und Netze befestigt. Noch bevor man sie kommen sah, hörte man schon von weitem das Scheppern und Klappern ihrer Ausrüstung. Daheim bei uns war sie häufig am Brunnen vor dem Haus mit Waschen und Zubereiten von Kräutern und dem Aussortieren von Beeren beschäftigt. Für unterschiedlichste Putzzwecke benutzte sie eine Vielzahl gräulicher Stoffläppchen in Taschentuchgröße, die sie am Brunnen auswusch und dann ausgerechnet immer wieder am Drahtgitterzaun im Hof zum Trocknen aufhängte, den meine Mutter als idealen Platz zum Hochranken ihrer Wicken ausersehen hatte.

Eine besonders perfide Waldschrat-Trietzübung ließen wir uns an einem Wintertag einfallen. Es lag viel Schnee. Die Hauslerin hatte in ihrem Haupt-Aufenthaltsraum unter dem Dach nur eine kleines verglastes Dachflächenfensterchen, das man mit einem Rasteneisen ausstellen konnte. Also warfen wir erst Schneebälle auf das Fenster. Eine Zeit lang tat sich nichts. Aber dann wurde blitzartig das Fenster nach außen aufgestoßen und der keifende Kopf der Alten tauchte auf. Genau darauf hatten ich und noch ein paar andere aber bloß gewartet - mit gut gekneteten Schneebällen in der Hand. Kaum war der Kopf der Alten zu sehen und so etwas wie "Saubande" zu hören, da hatten wir schon geworfen. Wir erzielten zwei Treffer mit zerplatzender Wirkung: auf Kopf und Schulter... Dieser dramatische Effekt hat uns selbst sehr überrascht - zugleich aber auch ein wenig beschämt. Wir wussten, dass wir nun zu weit gegangen waren - und haben die Alte danach in Frieden gelassen. Irgendwann nach unserem Anschlag zog sie aus. Dann wohnte und arbeitete die Schneiderin Rosa Gerschütz unterm Dach, die ich sehr mochte. Für die etwa 60-jährige Frau mit schütterem blondem Haar, warmer, liebevoller Stimme und gütigem Gesicht war die Dachwohnung renoviert und der früherer Gerümpel-Dachboden zu einem Arbeitsraum ausgebaut worden.

 

Aus unerfindlichen Gründen gab es ein weiteres Trietzobjekt, auf das eine Horde von Kindern einmal im Jahr eine regelrechte Hetzjagd veranstaltete: das war der so genannte Pelzermärtel oder kurz "Bulzer". Dabei handelte es sich um einen verkleideten Mann, der am Martinstag, dem 11. November, als so etwas wie ein verfrühter Nikolaus zu bestimmten kleineren Kindern kam, deren Eltern noch den älteren Sankt-Martins-Brauch pflegten. Ursprünglich war der Pelzer- oder Pelzmärtel als Knecht des Heiligen Martin zusammen mit dieser Figur aufgetreten, wobei Martin (historisch ein römischer Offizier) auf einem Pferd von Haus zu Haus zog und für die Geschenke zuständig war. Von seinem Knecht dagegen mit Stock und derbem Pelzkostüm - eben dem Pelz-"Martin" - wurden die Kinder ermahnt, gemaßregelt und in Angst versetzt. Später hat sich der Brauch wohl so verändert, dass der Pelzmärtel beide Rollen übernahm. In Bruck zu meiner Kinderzeit hatte er bestimmt keine große Freude an seiner Aufgabe. Kaum ließ sich die Gestalt irgendwo auf der Straße blicken, war gleich eine Kinderschar auf seinen Fersen, die ihn mit Geschrei und Sprechgesängen wie "Bulzer-Hultzer" verhöhnte. Als ich kleiner war, kam zu mir der Nikolaus am 6. Dezember. Seltsam, dass der einmal fast so sprach wie Tante Else, die damals noch mit im Haus wohnte...

 

Was Verfolgung bedeutete, musste ich zusammen mit einem Freund, selbst zweimal erleben. Einmal, wir hatten gerade die Schule verlassen und wollten den Sandberg hinunter Richtung Marktplatz gehen, baute sich hinter uns eine dröhnende, heulend-rauschende und immer lauter werdende Geräuschkulisse auf. Erschrocken drehten wir uns um - und sahen ein amerikanisches Kampfflugzeug im Tiefflug genau auf uns zukommen! In heller, panischer Angst rannten wir blitzartig den Berg hinunter. Das Flugzeug schien uns aufs Korn genommen zu haben und flog nach meinem Empfinden so tief, wie es über den Häusern des Dorfs gerade noch möglich war. Innerhalb von Sekunden hatte es uns aber schon überflogen und ließ uns den Luftsog spüren, den es hinter sich her zog... Wie glücklich und stolz waren wir da, diese Lebensgefahr überstanden zu haben. Dass der Pilot lediglich einen Scheinangriff geflogen und sich dafür halt mal kurz uns als lebendiges Ziel ausgesucht hatte, das konnten wir nicht wissen. Bei der US Air Force waren solche "Übungsflüge" über besiedeltem Gebiet damals keine Seltenheit.

 

Eine sehr reale Gefahr dagegen bestand bei einer zweiten Verfolgung - durch einen Hund. Im Hof eines Hauses an der Sandbergstraße hielt sich immer ein großer Rottweiler-Mischling auf, der meist auch an den Gartenzaun kam und laut bellte. Eines Tages kamen wir auf die Idee, ihn auch mal ein wenig zu "tretzen". Wir bauten uns vor dem Zaun auf, der uns hoch genug erschien, um das Tier am Überspringen zu hindern, schrieen laut und hampelten herum, um ihn so richtig herauszufordern. Prompt kam er herangerast, bellte wie verrückt, fletschte sein Gebiss und sprang am Zaun hoch. Wir machten weiter. Wieder sprang er hoch - und da kam er plötzlich mit seinen Vorderläufen schon über den Zaun. Er hing nun da oben, strampelte mit seinen Hinterbeinen und suchte Halt.. In Sekundenbruchteilen erkannte ich, was nun gleich kommen würde - und schrie "Helmut, lauf!" Und wir rannten wie um unser Leben, versuchten mit aller Anstrengung, die größtmögliche Geschwindigkeit aus unseren Beinen herauszuholen. Den Berg hinunter - wir hörten den Hund wieder bellen, er hatte den Zaun überwunden und war schon hinter uns her - am Marktplatz entlang - er bellte schon lauter - um die Ecke die Fürther Straße hinunter - wieder lautes Bellen, das näher gekommen schien - die Strecke bis zum Einbiegen in unsere Gasse wurde endlos, wir keuchten und rangen nach Luft... Endlich: Gartentüre aufreißen, hineinspringen und zuschlagen waren eins. Gerade noch rechtzeitig. Schon hatte das nachtragende Tier unseren Hauszaun erreicht, geiferte und tobte davor herum. Zum Drüberspringen schien er nun aber keine Kraft mehr zu haben. Wir versteckten uns erst mal bei uns im Hausflur und warteten ab - in der Hoffnung, dass es dem Tier draußen auf der Gasse so ganz ohne Feindbild langweilig werden und er sich wieder verziehen möge. Und tatsächlich: er tat uns den Gefallen! Sehr zu Helmuts Erleichterung, der noch ein ganzes Stück weiter die Webergasse entlang bis zum Haus seiner Eltern laufen musste.

 

Damals gab es übrigens noch viel weniger Hunde als heute. Und sie wurden meistens nicht als tierische Freunde im Haus gehalten, mit gekauftem Spezialfutter ernährt und täglich Gassi geführt. Für die Mehrzahl der Hundhalter galten sie als mehr oder weniger geschätzte Nutztiere. In ihrem Napf vor der Hüttehütte landeten Essensreste und Schlachtabfälle. Meistens fristeten sie ihr Leben angekettet als Wachhunde in Höfen. Als Hütehunde von Schafherden konnten sie sich wenigstens artgerecht bewegen. Ein weiteres Beispiel für das gefühlskalte Verhältnis von Mensch zu Tier in dieser Zeit war der eingesperrte Fuchs, der in einem Anwesen am Rand von Schallershof gehalten wurde. Das Wildtier saß noch dazu in einem kleinen Verließ hinter einer Gittertür unter dem Haus-Treppenaufgang. Unmittelbar daneben führte der Verbindungsweg durch das Regnitztal vorbei, der den Weiler am Klosterwald im Westen mit dem etwa einen Kilometer entfernten Bruck verband.