Millionenerbin aus Kapstadt: 1940 in der Schweiz gestorben? - bis 1950 in England nachweisbar

Bis zum Jahresende 2016 war über Ottos Bürgin Joan Wicht nicht sehr viel bekannt. Etwa, dass sie in England als ihre Wohnadresse das Hotel Oberland in Interlaken in der Schweiz angegeben hatte. Als Bürgin für den Aufenthalt eines NS-Flüchtlings musste sie aber britische Staatsangehörige sein und eine stolze Unterhaltspauschale von 200 Pfund bezahlen, die heute einem Wert von 10.000 Pfund entspricht!

Zum anderen muss sie Deutsch gesprochen haben. Ottos Mutter, die selbst kein Englisch sprach, berichtetet ja, dass sie für Ottos Aufenthaltsgenehmigung in England extra nach London gereist war, um dort eine "Ausländerin" zu treffen, die die Geldbürgschaft leisten wollte.

Außerdem wurde deutlich, dass es Joan Wicht gewesen sein dürfte, die im Jahr 1946 in einem Brief Insiderinformationen des britischen Geheimdienstes über Ottos Mission vom Herbst 1944 in Kärnten und Kroatien mitteilte...

Sylvia Skinner fand in England heraus, dass eine "Mrs. Wicht" im Jahr 1950 noch eine posthume Restsoldzahlung an Otto in Höhe von 38 Pfund empfangen und an den Jewish Relief Fund überwiesen hat.

 

Meine Nachforschungen im Hotel Oberland in der Schweiz und bei der Stadtverwaltung Interlaken ergaben, dass Joan Wicht ab 1939 mehrmals Gast im Hotel gewesen war. Bei ihrem letzten Besuch (vor 1942) soll sie aber "vergessen” haben, bei der Abreise ihre Rechnung zu bezahlen...

Seltsamerweise war sie in Interlaken nie polizeilich gemeldet!

Erst die Recherche eines Freundes im Schweizer Bundesarchiv Ende 2016 brachte neue Erkenntnisse. Bei den gefundenen Dokumenten handelt es sich um den Schriftverkehr eines Interlakener Anwalts mit der Schweizer Botschaft in Kapstadt und dem Britischen Konsulat in Bern von 1941 bis 1946/47, in dem es um das Erbe von "Joan Christine Wicht" und die vom Schweizer Staat erhobene Erbschaftssteuer geht.

Die schier unglaubliche Überraschung dabei:

Joan Wicht soll am 23. November 1940 in Interlaken verstorben sein. Das Erbe wurde von ihrer Testamentsverwaltung, der General Estate und Orphane Chamber (Allgemeine Vermögens- und Waisenkammer) im südafrikanischen Kapstadt, auf rund 2,4 Millionen Schweizer Franken beziffert. Zusätzlich waren in der Schweiz noch ein Rolls Royce, gekauft 1935, und Schmuck im Wert von 12.000 Franken vorhanden. Ihr Testament datiert aus dem Jahr 1912. Haupterben sind drei Neffen und eine Nichte in Südafrika.

 

Vor dem bekannten Hintergrund können die Angaben über Joans Tod nur unwirklich und unglaubwürdig erscheinen. Und in der Schweiz finden sich auch keinerlei stichhaltige Beweise dafür - wie z.B. eine Sterbeurkunde!

Laut Erbschaftsmandat des Interlakener Anwalts sollen die Schweizer Behörden aber von einem ständigen Wohnsitz ausgegangen sein und damit auch ihre Erbschaftssteuerforderung begründet haben.

 

Über das Internet bin ich auf einen Groß-Großneffen von Joan aufmerksam geworden: David Wicht, Filmproduzent in Kapstadt und Los Angeles (Film Afrika), der eine Website mit Blog über die großen, miteinander verwandten Immobilieneigentümer-Familien Wicht und Hofmeyr im Kapstadt des 19. und 20. Jahrhunderts veröffentlich hat. Von David Wicht war zu erfahren, dass Joan eigentlich Johanna hieß (Rufname “Dolly”) und im Jahr 1912 Kapstadt Richtig Europa verlassen hat. Dabei nahm sie ihren Rolls Royce, einen Fahrer und ein Dienstmädchen mit. David hat ein Bild von Johannas Royce in London aus dem Jahr 1930 veröffentlicht, auf dem zwei der erbberichtigten Neffen aus Südafrika zu sehen sind. Leider ist Johanna selbst nicht darauf abgebildet.

Johanna soll während des Ersten Weltkriegs ständig in der Schweiz gelebt haben. Sie ist nie mehr nach Südafrika zurückgekehrt und war für die Familie irgendwie verschollen.  Laut David Wicht haben nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Familiendelegationen die Schweiz besucht, um dort nach dem Millionenerbe zu fahnden. Ihre Bemühungen sollen von den Schweizer Behörden aber verhindert worden sein. Fakt ist, dass die Wicht-Neffen ein in der Schweiz vermutetes Barvermögen nie erhalten haben!

 

Im Internet findet man Grabstein-Bilder der Familie Wicht. Eines zeigt das Grab der beiden älteren Geschwister von Johanna. Die Schwester wurde nur ein Jahr alt, Bruder Hans Heinrich ist im Alter von 20 Jahren gestorben. Nach den bei GenWiki im Internet veröffentlichten Angaben ist Johanna 1864 geboren und 1941 im Alter von 76 Jahren gestorben!

Ihre Eltern waren Johan Fredrik Wicht, geboren 1813, gestorben 1907, und Geertruida Aletta Hofmeyr, geboren 1828, gestorben 1902.

 

Gerade weil Johanna/Joan 1939 in England die Einreise- und Aufenthaltsbürgschaft für den deutschen Flüchtling Otto Hess übernommen hat, kann man sich vorstellen, wofür ihr Geldvermögen ausgegeben worden sein könnte:

für Bestechungs- und Alimentationsgelder zur Fluchthilfe deutscher Juden in die Schweiz!

Vor allem in Berlin lebten während des Zweiten Weltkriegs rund 5.000 Verfolgte als sogenannte U-Boote im Untergrund. Über Fluchthilfeorganisationen wie die von Luise Meier in Berlin konnten etwa 1.400 in die Schweiz ausgeschleust werden.  

Joan könnte als unsichtbare Finanzperson im Hintergrund gewirkt haben. Vielleicht war es auch unumgänglich, offiziell zu sterben, um “under cover” weiter arbeiten zu können.

Natürlich ist das ohne schlüssige Beweise nur eine Theorie. Aber wohl doch eine sehr realistische.

Wegen Joans Verbindung zu England und London, ihrer britischen Staatsangehörigkeit und offensichtlicher Beziehungen zum Militär und zu nachrichtendienstlichen Quellen wäre sogar eine Tätigkeit für den britischen Geheimdienst denkbar.

Die Bürgschaft für Otto Hess und dessen ganz außergewöhnliche Militärkarriere in England legen die Vermutung nahe, dass Joan Ottos Laufbahn von Anfang an beeinflusst haben könnte...